Der Boss by Netenjakob Moritz

Der Boss by Netenjakob Moritz

Autor:Netenjakob, Moritz
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
ISBN: 978-3-462-30533-3
Herausgeber: eBook by Kiepenheuer&Witsch


Auf jeden Fall hatte mir Mark – damals noch mit der Stimme von Otto Waalkes – ein Geburtstagsständchen gebracht, danach habe ich erst Marks Geschenk ausgepackt – das Video Das Leben des Brian – sowie die Geschenke meiner Eltern: fünf LPs von Wolf Biermann, das Gesamtwerk von Thomas Mann sowie der Frankreich-Reiseführer Auf den Spuren der Existenzialisten. Als mein Vater sich dann eine Minute lang räusperte, spürte ich sofort, dass er mal wieder etwas Bedeutendes sagen will:

»Mein Sohn, du bist nun alt genug, dass ich dir ein Geständnis mache … Dein Lieblingsreh im Kölner Stadtwald …«

»Tina?«

»Genau. Tina. Also, es ist folgendermaßen: Als wir dir damals erzählt haben, dass man sie in den Bayrischen Nationalpark gebracht hat, weil sie dort viel mehr Auslauf hat … Diese Geschichte … Tja, ich muss es so hart formulieren: Es war eine Lüge.«

Ich hatte seit mindestens zehn Jahren nicht mehr an mein Lieblingsreh gedacht, das ich bei jedem Stadtwald-Besuch gefüttert hatte und das dann von einem Tag auf den anderen plötzlich nicht mehr da gewesen war. Ich hatte die Geschichte mit dem Bayrischen Nationalpark ebenso geschluckt wie die Tatsache, dass wir es nicht besuchen konnten, weil in Bayern die CSU regiert. Mein Vater wiederholte sein Räusperritual und fuhr fort:

»Mir war die ganze Zeit nicht wohl bei dem Gedanken, meinen eigenen Sohn zu belügen, aber ich habe mich der Meinung deiner Mutter gebeugt, dass die Wahrheit zu hart für ein siebenjähriges Kind wäre. Obwohl ich dir bereits als Sechsjährigem von Sartre erzählt habe und du insofern schon von der Sinnlosigkeit der Existenz wusstest. Wie dem auch sei, ich habe lange Zeit mit mir gehadert und schließlich mein Gewissen beruhigt, indem ich mir geschworen habe, dir am 18. Geburtstag alles zu sagen. So, jetzt ist es raus. Ich hoffe, du verzeihst mir.«

Mein Vater tupfte sich den Schweiß von der Stirn und lächelte meine Mutter an, als wäre ihm eine große Last vom Herzen gefallen. Das Geständnis hat ihn so mitgenommen, dass er sogar vergessen hat, die Nazizeit zu erwähnen.

So viel zu meiner Sozialisation im Bezug auf Lügen. Und jetzt knie ich hinter einem alten Türken und tue so, als würde ich beten. Und es passiert … nichts. Kein Donnergrollen, kein Blitz, der auf mich niederfährt. Nicht einmal Ulrich Wickert erscheint, um mich moralisch zu maßregeln. Plötzlich verspüre ich ein positives Kribbeln in der Magengrube, das mich überrascht. Es ist der Reiz des Verbotenen. Ich bin ein Held, der gerade das vertraute Terrain der deutschen Überkorrektheit verlassen hat und zu einem Abenteuer in das Land der Lügen aufgebrochen ist. Vielleicht gibt es in diesem Land für mich ja noch mehr zu entdecken?



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